Politische Transformationen in Osteuropa
Prof. Dr. P. Maser, Universität Münster, Deutschland
Anrede,
seit 1917/18 hatten die russischen Bolschewisten ihr Regime nach innen mit Mord und Terror gegen breiteste Volksschichten (Adelige, Großgrundbesitzer, Unternehmer und Mittelstand, Bauern [Kulaken], Gläubige und Angehörige des Klerus, Intellektuelle) befestigt. Ab 1920 versuchte die junge Sowjetunion zudem, sich mit einem Schutzgürtel kommunistischer Sattellitenregime als Pufferzone zu schützen. Alle diese Bestrebungen im Iran, in China, Aserbaidschan, Ungarn, Polen, Deutschland und Estland, die bolschewistische Revolution zu exportieren, scheiterten allerdings. Lediglich in der Mongolei führte der sowjetische Einmarsch 1921/24 tatsächlich zur Errichtung einer kommunistischen Volksrepublik, die bis in den Frühsommer 1990 Bestand haben sollte. Ab den späten zwanziger Jahren gab Stalin die Idee der Weltrevolution vorerst auf, um die Diktatur der KPdSU im eigenen Land zu perfektionieren. Die Terrorkampagnen der späten dreißiger Jahre mit ihren barbarischen Schauprozessen und der landesweiten Ausdehnung des Systems der GULAG-Lager sollten die kommunistische Herrschaft stärken, bedeuteten aber in Wahrheit das Ende aller Illusionen über den Kommunismus und schwächten das sowjetische System entscheidend. Die sowjetische Gesellschaft degenerierte zu einer Gemeinschaft der „Flüsterer“, wie es Orlando Figes so eindrücklich beschrieben hat. Der Ausbruch des 2. Weltkrieges rettete Stalin: In einer gewaltigen Volksbewegung wurden auch die letzten Kräfte im Kampf gegen den Faschismus mobilisiert. Am 8. Mai 1945 um 23:01 Uhr (MEZ) kapitulierte die Deutsche Wehrmacht an allen Fronten. Am 24. Juni fand die große Siegesparade in Moskau statt. Durch ihren Sieg im Zweiten Weltkrieg war die Sowjetunion zur Weltmacht geworden. Der sowjetische Revolutionsexport in die Tschechoslowakei, nach Polen, Ungarn, Bulgarien, Rumänien, den sowjetisch besetzten Teil Deutschlands, die spätere DDR, dann auch nach Nordkorea, China und schließlich auch Nord-Vietnam (1954 und Kuba (1959) schuf eine Cordon sanitaire, der das sowjetische Imperium umfassend absichern sollte.
In allen sowjetisch dominierten Ländern wurde mehr oder weniger strikt die kommunistische Einparteien-Herrschaft eingeführt. Diese sollte durch umfassende, gewaltsame gesellschaftliche Umgestaltungen (Betriebsenteignungen, Bodenreformen und Kollektivierung der Landwirtschaft, Bildungswesen, Marginalisierung der Religionsgemeinschaften, Militarisierung des gesamten Lebens) abgesichert werden. Politische Gegner, Gläubige und Angehörige nationaler Minderheiten wurden vielfach repressiert. Die Verschleppungen von Zehntausenden in die Sowjetunion, massenhafte Exekutionen in den einzelnen Ländern sowie in den sowjetischen Gefängnissen und auf den „Schießplätzen“ rund um Moskau, aber auch Schauprozesse, oft mit stark antisemitischer Ausrichtung, und der Aufbau gigantischer Geheimdienstapparate bestimmten die Zeit bis zum Tode Stalins am 5. März 1953. Danach wurde der offene Terror durch feinere Methoden ersetzt. Die kommunistischen Regime warben um Anerkennung bei der unterworfenen Bevölkerung durch soziale Versprechen und die Verteilung von Privilegien an die Anhänger des Systems. Mit den Kirchen, die nicht in das gesellschaftliche Gesamtsystem des Sozialismus integriert werden konnten, wurde eine Art „bewaffneter Friede“ ausgehandelt. Das galt insbesondere für Polen, wo die katholische Kirche als Hort der nationalen Identität galt, aber auch für die DDR, wo die protestantischen Kirchen zwar allmählich zurückgedrängt, aber nicht liquidiert werden konnten. In den übrigen Ostblock-Staaten wurden die Kirchen weitgehend auf ihre kultischen Aufgaben begrenzt, blieben aber gleichfalls als Zeugen gegen den absoluten Wahrheitsanspruch der marxistisch-leninistischen Ideologie präsent. Die „Babuschkas“, diese Heerscharen alter, intellektuell oft sehr schlichter und sozial unterprivilegierten Frauen, blieben die unbeugsamen Hüterinnen der christlichen Traditionen. Die Soziologen rätseln heute noch darüber, wie das möglich war.
Die Sowjetherrschaft im östlichen Europa war auf Uniformität angelegt. Alle entscheidenden Weisungen kamen aus Moskau. Das betraf die Ideologie, die Wirtschaft, die Kultur und Wissenschaft, die Schulen, die sozialen Systeme, selbstverständlich auch das Militär und alle Bereiche der Politik. Die wichtigsten Kader wurden in Moskau ausgebildet und sprachen Russisch. Die nationalen Geheimdienste wurden vom sowjetischen NKWD/KGB angeleitet und kontrolliert. Die „Freunde“, wie die sowjetischen Genossen zumindest in der DDR intern immer genannt wurden, waren allgegenwärtig. „Von der Sowjetunion lernen, heißt siegen lernen“, so haben wir es schon in der Schule gelernt.
Risse in der heilen Welt des Sowjetimperiums wurden im Februar 1956 sichtbar, als N.S. Chruschtschow in seiner berühmten Geheimrede vor dem XX. Parteitag der KPdSU, die sehr rasch durch den israelischen Mossad öffentlich gemacht wurde, den Personenkult um Stalin und dessen Verbrechen geißelte. Die daraufhin einsetzende Entstalinisierung und „Tauwettterperiode“, genannt nach einem Romantitel Ilja Ehrenburgs, ermöglichte eine Lockerung der Zensur und Liberalisierung der Kultur, leitete aber auch eine tiefe moralische Krise des Kommunismus ein. Die Gemeinsamkeiten der totalitären Regime des 20. Jahrhunderts konnten nicht länger übersehen werden: Dem Rassenmord der Nazis entsprach der Klassenmord der Kommunisten. Die Opferzahlen hatten etwa die gleichen Ausmaße erreicht. 1957 veröffentlichte Boris Pasternak seinen mit dem Nobelpreis ausgezeichneten Roman „Doktor Schiwago“. 1962 erschien in „Nowy Mir“ Alexander Solschenizyns Erzählung „Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch“. Damit setzte die sog. „Lager-Literatur“ ein, deren unüberbietbaren Höhepunkt Solschenizyn ab 1974 mit seinem „Archipel Gulag“, einem der einflußreichsten literarischen Werke des 20. Jahrhunderts, schuf.
Die zwangsweise verordnete Uniformität des sowjetischen Imperiums zerbrach seit Stalins Tod langsam, aber unaufhaltsam vor allem aus zwei Gründen: Zum einen vermochte es das Regime auf die Dauer nicht, die höchst unterschiedlichen nationalen Traditionen und aktuellen Rahmenbedingungen der ihm unterworfenen Völker zu integrieren. Zum anderen konnten die sozialen Versprechungen eines sozialistischen bzw. kommunistischen Lebens niemals auch nur annähernd eingelöst werden. Im Vergleich mit den westlichen Lebensverhältnissen blieben die sozialistischen Länder immer Regionen einer Mangelwirtschaft, die die Belastungen durch die staatliche Planwirtschaft sowie die aufgeblähten Partei-, Geheimdienst- und Militärapparate niemals ausgleichen konnten.
Die Geschichte des Kommunismus im östlichen Europa nach dem Tode Stalins war immer auch die Geschichte von Aufständen gegen das kommunistische Regime:
- Im Juni 1953 kam es in der DDR zu einer das ganze Land erfassenden Welle von Demonstrationen, Streiks und Protesten gegen unmäßige Normerhöhungen. Dieser Arbeiteraufstand wurde von 16 sowjetischen Divisionen mit 20.000 Soldaten und 8.000 Angehörigen der Kasernierten Volkspolizei der DDR blutig niedergeschlagen. Etwa 70 Todesfälle waren zu beklagen, darunter sieben Hinrichtungen. Mindestens 6.000 Menschen wurden inhaftiert. Tausende flohen in den westlichen Teil Deutschlands, die Bundesrepublik, vor allem junge Menschen, Schüler und Studenten, also wichtige Teile der zukünftigen Eliten.
- Im Juni 1956 streikten Tausende von Arbeitern in der polnischen Stadt Poznan/Posen gegen die schlechten Arbeits- und Lebensbedingungen. Auch dieser Streik wurde blutig niedergeschlagen. 74 Menschen starben, über 500 wurden verletzt.
- Im Oktober 1956 brach in Ungarn ein Volksaufstand aus, an dem sich starke Gruppierungen von Studenten, aber auch zahlreiche Parteikader beteiligten. Die bewaffneten Auseinandersetzungen zogen sich in Budapest über mehrere Tage hin und kosteten auf ungarischer Seite etwa 2.500 Tote. Die sowjetischen Truppen sollen 720 Mann verloren haben. Insgesamt 200.000 Ungarn flohen damals in den Westen. 350 Menschen wurden hingerichtet.
- Im Frühjahr 1968 versuchte die Kommunistische Partei der ČSSR unter Führung von Alexander Dubček ein Liberalisierungs- und Demokratisierungsprogramm unter dem Stichwort „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ durchzusetzen. Der „Prager Frühling“, der von breiten Schichten der Bevölkerung aktiv unterstützt wurde, endete mit der Invasion der Warschauer Pakt-Truppen am 21. August 1968. 98 Tschechen und Slowaken verloren dabei ihr Leben. Etwa 150.000 Tschechen und Slowaken emigrierten damals in das westliche Ausland. Etwa einer halben Million KPČ-Mitglieder wurde das Parteibuch entzogen.
Alle diese Aufstände, die von unterschiedlichen Motiven ausgelöst und von unterschiedlichen Bevölkerungsschichten getragen wurden, beschleunigten die moralische und politische Delegitimation der kommunistischen Herrschaft, vertieften die Kluft zwischen der Bevölkerung und den Machthabern und beraubten die jeweiligen Länder wichtiger Teile ihrer Eliten. Verbitterung, Resignation und der Rückzug in die wenigen „gesellschaftlichen Nischen“, die das Regime nicht zu schließen vermochte, prägten seitdem den sozialistischen Alltag. Der Modernisierungsrückstand der sozialistischen Staaten gegenüber dem Westen nahm ständig zu. Die Infrastruktur verwahrloste zunehmend, die Krise wurde zum Dauerzustand.
Mit der Abriegelung der DDR gegenüber dem Westen durch den Bau der Berliner Mauer am 13. August 1961 wurde die Teilung der Welt in zwei sich feindlich gegenüberstehende Blöcke perfektioniert. Der seit 1969 von der Bonner Bundesregierung angestrebte „Wandel durch Annäherung“ vermochte - auch durch die Gewährung großer Kredite - manche Härten im deutsch-deutschen Verhältnis und international (KSZE-Prozeß) abzumindern. Aber generell gesehen bewirkte die strikte Abgrenzungspolitik der kommunistischen Staaten ihren eigenen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Stillstand. Leonid Breschnew, dessen nach ihm benannte Doktrin die begrenzte Souveränität der sozialistischen Staaten ideologisch und politisch festschrieb, wurde zum Inbegriff eines „Zeitalters der Stagnation“.
Gegen alle Erwartungen der Politologen, die auf interne, parteigesteuerte Reformen der kommunistischen Regime setzten, wurde der grundlegende Wandel hin zum Sturz der Diktaturen weder durch die „Annäherung“ der westlichen Staaten, noch durch Modernisierungsprozesse innerhalb der kommunistischen Parteien eingeleitet. Es waren vielmehr verschiedenste unabhängige Gruppen innerhalb der sozialistischen Staaten, die Reformen einforderten. Die Wege der Opposition in den Ostblock-Staaten verliefen außerordentlich kurvenreich, setzten sie doch von unterschiedlichen Ausgangspunkten ein. Die Oppositionellen selber bildeten sehr buntgemischte Truppen, deren Motivationen und Zielstellungen zunächst wenig Gemeinsamkeiten aufwiesen. Zumindest anfänglich stellten sich diese oppositionellen Gruppen auch als ausgesprochen randständige Phänomene innerhalb der sozialistischen Gesellschaften des östlichen Europas dar, denen über lange Zeit hinweg eine geschichtsgestaltende Kraft nicht zugetraut wurde. Erst Ende der achtziger Jahre sollte sich das grundlegend ändern. Aber erinnern wir uns zunächst der Anfänge und der Mühen der Ebenen oppositionellen Denkens und Handelns:
- Die erste Oppositionsbewegung, die die Axt an die Wurzeln der kommunistischen Gewaltherrschaft legen sollte, entstand in Polen. Dort besaß die katholische Kirche als Hüterin der nationalen Traditionen und Identität immer eine besonders starke Stellung. Die Klubs der katholischen Intelligenz, die von 1957 bis 1976 sogar eine legale Opposition im Sejm bilden konnten, waren immer Zentren der intellektuellen Opposition gegen die Zumutungen des kommunistischen Regimes. Diese Klubs verbündeten sich ab Mitte der siebziger Jahre mit den „Komitees zur Verteidigung der Arbeiter“ und den Anfängen einer freien Gewerkschaft in Radom und Kattowitz. Weltgeschichtliche Bedeutung erlangte die Wahl des Krakauer Erzbischofs Karol Wojtyła zum Papst am 16. Oktober 1979. Zum Pfingstfest Anfang Juni 1979 verkündete Papst Johannes Paul II. vor mehr als einer Million begeisterter Landsleute auf dem Warschauer Siegesplatz seine Botschaft von der Notwendigkeit, diese Welt in der Kraft des Heiligen Geistes grundlegend zu verändern. Dieser religiös-spirituelle Appell stieß als politische Botschaft nicht nur in Polen auf große Resonanz. Endlich war eine Persönlichkeit von weltweiter Wirkung, unerschöpflicher Energie und größter politischer Klugheit hervorgetreten, die dem Kommunismus in seinem eigenen Herrschaftsbereich den Kampf ansagte. In diesem Umfeld entstanden die ersten freien Gewerkschaftsorganisationen in Polen. 1980 wurde Polen von zahlreichen Streiks in Großbetrieben wie der Danziger Werft und dem Traktorenwerk Ursus in Warschau erschüttert. Am 3. Oktober wurde die Gewerkschaft Solidarność, die erste wirkliche freie Gewerkschaft im Ost-Block, gerichtlich anerkannt. Einen Monat später gehörten mehr als die Hälfte der polnischen Arbeitnehmer der von Lech Wałęsa geführten Solidarność an. Dieser gesellschaftliche Aufbruch konnte auch nicht mehr durch die Verhängung des Kriegsrechts und die Einrichtung von Internierungslagern im Dezember 1981 aufgehalten werden, nachdem eine geplante Invasion der Truppen des Warschauer Pakts durch ein Veto aus Moskau unmöglich geworden war. Die polnische Opposition kämpfte unter den Bedingungen des Kriegsrechts unvermindert um ihre Freiheitsrechte weiter. Der polnische Samisdat verbreitete die Ideen der Freiheit in weitesten Kreisen der Bevölkerung. Im April 1989 fanden sich die Vertreter der Kommunistischen Partei und der Opposition zum Runden Tisch zusammen, an dem der Sturz der kommunistischen Herrschaft so lange moderiert wurde, bis korrekte demokratische Institutionen (freie Wahlen, Mehrparteiensystem, parlamentarische Gremien, rechtsstaatliche Justiz) arbeitsfähig wurden. Zusammenfassend darf man wohl sagen, daß der Kommunismus in Polen von einer Koalition aus Katholiken, Intellektuellen und Arbeitern zu Fall gebracht wurde, deren Hauptgemeinsamkeit die Liebe zu einem freien Polen und die tiefe Prägung durch christliche Werte gewesen war.
- In der DDR wuchs die politische Opposition aus einer christlichen Friedensbewegung hervor. Aus pazifistischen Wehrdienstverweigerern wurden unter dem Schutzdach der protestantischen Kirchen politische Oppositionelle, deren politischer Forderungskatalog immer umfangreicher wurde. Die meisten dieser Oppositionellen wollten den gewaltlosen Sturz der SED-Diktatur und eine reformierte DDR. Der Gedanke an eine deutsch-deutsche Wiedervereinigung lag ihnen zumeist fern und wurde erst durch die Massendemonstrationen des Herbst 1989 auf die politische Tagesordnung gesetzt. Als aus dem Ruf „Wir sind das Volk“ die Losung „Wir sind ein Volk“ geworden war, begriff auch die westdeutsche Politikerklasse, daß der Weg in die Wiedervereinigung unaufhaltsam geworden war. Mein Freund, der Berliner Bischof Martin-Michael Passauer, wird Ihnen dazu noch sehr viel mehr berichten.
- Ungarn stellte im sowjetischen Machtimperium immer einen Sonderfall dar. Das Land galt als die „lustigste Baracke“ im Ostblock. Der Staatssozialismus ungarischer Prägung wurde nicht ohne Grund als „Gulaschkommunismus“ bezeichnet, also als eine abgemilderte Form des sowjetischen Systems mit spezifisch ungarischen Zutaten. Als Spätfolge des Ungarnaufstandes von 1956 und der anhaltenden Resistenz breiter Bevölkerungsschichten konnte János Kádár ab den späten fünfziger Jahren bei der sowjetischen Führung das Zugeständnis einiger Freiheiten erreichen, so z.B. die Wiederzulassung einer bescheidenen Privatwirtschaft, kulturelle Liberalität oder die Genehmigung von Reisen in den Westen auch für „normale“ Bürger. Die Ungarische Sozialistische Arbeiterpartei (USAP) hielt sich an das Bibelwort (Luk. 9,50): „Wer nicht gegen uns ist, ist mit uns.“ Diese Art von „Gesellschaftsvertrag“ ermöglichte dem Land und der Bevölkerung die Wahrnehmung kleiner Freiheiten, die 1987/88 auch die Bildung von Oppositionsgruppen bis in die USAP hinein einschlossen. Einen entscheidenden Schritt tat die ungarische Führung, als Außenminister Gyula Horn am 27. Juni 1989 den Stacheldraht an der Grenze zu Österreich zusammen mit seinem österreichischen Amtskollegen Alois Mock durchschnitt. Hunderte von DDR-Bürgern konnten damit von Ungarn aus über Österreich in die Bundesrepublik Deutschland ausreisen. Der „Eiserne Vorhang“, der Osten und Westen über Jahrzehnte voneinander getrennt hatte, war an entscheidender Stelle durchlöchert worden!
- In Prag besetzten im August/September 1989 besetzten bis zu 3.500 DDR-Bürger die bundesdeutsche Botschaft und kampierten dort unter schwierigsten Umständen. Am 30. September konnte der bundesdeutsche Außenminister Hans- Dietrich Genscher unter dem frenetischen Jubel der Botschaftsflüchtlinge mitteilen, daß deren Ausreise in die Bundesrepublik möglich geworden sei. Der Transfer der Flüchtlinge in Zügen der DDR-Reichsbahn über das Staatsgebiet der DDR wurde zu einem weltweit beachteten Medienereignis. Nach der Öffnung der Berliner Mauer und dem Sturz des Schiwkow-Regimes in Bulgarien am 12. November kam es am 16./17. November in Bratislawa und Prag zu Studentendemonstrationen und -streiks, denen sich die Schauspieler der Prager Bühnen anschlossen. Diese Aktionen weiteten sich am 24. November zu Massenprotesten aus, bei denen der Schriftsteller Václav Havel und Alexander Dubček, der „Held des „Prager Frühlings“, erfolgreich den Rücktritt der gesamten Parteiführung forderten. Mit einem nur zweistündigen Generalstreik erreichte die „Samtene Revolution“ am 27. November ihren Höhepunkt. Am 10. Dezember konnte die erste mehrheitlich nichtkommunistische „Regierung des nationalen Einverständnisses“ seit 1948 ihre Amtsgeschäfte aufnehmen. Alexander Dubček wurde zum Parlamentspräsidenten und Václav Havel zum Staatspräsidenten gewählt. Am 31. Dezember 1992 trennten sich Tschechien und die Slowakei voeinander und wurden zu unabhängigen Staaten.
- Erinnern wir schließlich auch noch an die Ereignisse des Jahres 1989 in Rumänien. Dort hatte Nicolae Ceauşescu, der 1965 an die Macht gekommen war, seit 1974 einen totalitären Polizeistaat errichtet. Oppositionelle wurden in psychiatrische Kliniken eingewiesen oder zum Verlassen des Landes gezwungen. Der Geheimdienst Securitate verfügte über 15.000 hauptamtliche Mitarbeiter und bis zu 700.000 Informanten. Ab 1982 beschritt der Conducãtor Ceauşescu einen nationalrumänischen Sonderweg, der zur raschen und totalen Verelendung des ganzen Landes führte. Die Lebensmittel wurden streng rationiert, Fleisch gab es praktisch überhaupt nicht mehr, die Temperatur in den fernbeheizten Wohnungen wurde im Winter auf 12 Grad reduziert, pro Haushalt durfte nur eine 25-Watt-Glühbirne eingesetzt werden, pro Auto wurden monatlich nur noch 60 Liter, dann nur noch 20 Liter Benzin zugeteilt, das Fernsehen war nur noch von 20:00 bis 21:45 Uhr aktiv, die Säuglingssterblichkeit war die höchste in ganz Europa. Riesige Prestigebauten, wie der Donau-Schwarzmeer-Kanal und vor allem der Ceauşescu-Palast in Bukarest, das größte Gebäude Europas, vergrößerten das allgemeine Elend. Mit dem Programm der „Systematisierung der Dörfer“ war die Zerstörung von 6.500 Dörfern vorgesehen, die Bevölkerung sollte in „agro-industrielle Zentren“ umgesiedelt werden. Die Korruption war allgegenwärtig. Im Gegensatz zu allen anderen Ostblock-Staaten verlief die Revolution in Rumänien ausgesprochen blutig. Ausgangspunkt war die beabsichtigte Deportation des widerständigen ungarisch-reformierten Pastors László Tökes in Timişoara. Es kam zu bürgerkriegsähnlichen Kämpfen, die bald auch Bukarest erreichten und in denen über tausend Menschen ihr Leben verloren. Am 22. Dezember 1989 ließ der Conducãtor den Notstand über das ganze Land verhängen, nach dessen Regeln er schließlich zusammen mit seiner Frau Elena in Târgoviste am 25. Dezember um 14:50 Uhr hingerichtet wurde. Viele Einzelheiten des revolutionären Umsturzes in Rumänien sind bis heute nicht befriedigend geklärt. Die nachrevolutionären Machthaber, die vielfach mit dem alten System verbunden waren, wenn sie auch eine oberflächliche „Dekommunisierung“ in die Wege leiteten, gehörten weitgehend zur kommunistischen Kaderreserve.
Der Untergang des sowjetisch dominierten Imperiums und der kommunistischen Regime im östlichen Europa war so von niemandem erwartet worden. Die meisten oppositionellen Gruppierungen hatten Reformen gewollt und Revolutionen ausgelöst, die ein neues Zeitalter einleiten sollten. Auch im Westen war man auf einen solchen Systemwechsel und den Zusammenbruch des Ostblocks nicht vorbereitet gewesen: Die Schreibtischschubladen in Washington, Bonn, Paris und London waren leer und enthielten keine Pläne für diesen Fall.
Erstaunlich bleibt, daß der Umsturz in den meisten Ostblock-Staaten mehr oder weniger friedlich verlief. Das wurde möglich, weil die Demonstranten friedlich blieben. Vor allem aber deshalb, weil die sowjetischen Truppen im Unterschied zu früheren Zeiten nicht mehr gewaltsam eingriffen: Die Kasernentore blieben geschlossen, die Panzer rollten nicht, es wurde nicht geschossen. Die grundlegenden Veränderungen in der Sowjetunion Michail S. Gorbatschows im Zeichen von „Perestroika“ und „Glasnost“ machten diesen grundlegenden Wechsel aller Verhältnisse möglich. In der Folgezeit zog die Sowjetunion ihre Truppenkontingente aus den besetzten Gebieten zurück: Das bedeutete alleine für Deutschland bzw. die DDR den Abzug von rund 546.000 sowjetischen Militärangehörigen, einschließlich der Soldatenfamilien. Diese Aktion war nicht nur eine logistische Gewaltanstrengung. Mit dem Abzug der sowjetischen Truppen aus Deutschland wurde zugleich die Epoche des Zweiten Weltkriegs beendet. Viele Veteranen der Roten Armee fragen bis heute voller Verbitterung, ob dieser damit nicht zuletzt doch verloren worden sei - nach allen glanzvollen Siegen im Großen Vaterländischen Krieg. Die Bundesrepublik Deutschland hat damals in diesem Zusammenhang rund 20 Milliarden DM Ausgleichszahlungen an die Sowjetunion geleistet.
Der Sturz der kommunistischen Regime unter sowjetischer Führung erfolgte von Berlin bis Ulaanbaatar praktisch überall und gleichzeitig. Es war, als ob eine längst morsche Hütte nun von dem ersten stärkeren Wind zum kompletten Einsturz gebracht worden wäre. Das erklärt sich wohl vor allem aus der von Moskau her verordneten Uniformität des sowjetischen Imperiums. Über Jahrzehnte hinweg hatte die Sowjetunion ihre Satellitenstaaten an der straffen Leine geführt. Als die ersten dieser Staaten diesen Leinenzwang abschüttelten und davon liefen, war auch für den Rest der Meute kein Halten mehr.
Das alles liegt inzwischen fast zwanzig Jahre, also fast eine ganze Generation, zurück. Diejenigen, die damals gerade erst geboren wurden, sind inzwischen an den Universitäten immatrikuliert. Viele dieser jungen Leute wissen nur noch wenig von den damaligen Ereignissen, von den Personen, die vor zwanzig Jahren führende Rollen beim Umsturz übernahmen, und von den historisch-politischen Rahmenbedingungen, unter denen das Ende des Kommunismus zustande kam. Sie fragen vielmehr: Was hat das alles uns eigentlich gebracht? Sie hören die oft sehr widersprüchlichen Erzählungen der Eltern und Großeltern aus einer längst vergangenen Welt und fragen sich, wo ihr Platz ist, welche Zukunftsperspektiven sie haben.
Im Zusammenhang mit dem Sturz des Kommunismus vor zwanzig Jahren stellen sich ja doch heute u.a. folgende Fragen
- Was ist aus den Erwartungen der Beteiligten geworden?
- Welche Utopien mußten aufgegeben und welche Realitäten anerkannt werden?
- In welchem Ausmaß konnten sich zivilgesellschaftliche, pluralistische und demokratische Parteistrukturen etablieren?
- In welchem Umfang ist der Übergang von der staatlichen Planwirtschaft zur Marktwirtschaft gelungen?
- Welche Qualität hat der Aufbau des Rechtsstaates inzwischen erreicht?
- Welche Belastungen aus der kommunistischen Vergangenheit wirken fort?
- Wo blieben die Kader der gestürzten Regime?
- In welchem Ausmaß dürfen die neuen Demokratien als gefestigt gelten und wo haben sie sich mit neuen Bedrohungen auseinanderzusetzen?
- Wie steht es um Nationalismus und Werteverlust?
Eine differenzierte Antwort auf alle diese Fragen kann ich hier im Blick auf die Vielzahl der vom Kommunismus befreiten Länder nicht geben. Aber einige Hinweise lassen Sie mich doch geben:
- Die meisten Länder des östlichen Europas sind nach dem Ende der kommunistischen Herrschaft insgesamt westlicher geworden. Viele von ihnen konnten die unter der kommunistischen Herrschaft unterdrückten Verbindungslinien zur westlichen Kultur neu beleben. Das gilt insbesondere für die Regionen Südosteuropas, die einst zum Habsburgerreich gehörten. Die „Verwestlichung“ der Lebensverhältnisse konnte allerdings auch Werteverlust und die psychosoziale Überanstrengung traditionell geprägter Bevölkerungsschichten, z.B. der Bauern, nach sich ziehen.
- Die Sowjetunion bzw. die Rußländische Föderation stellt im Transformationsprozeß insofern einen Sonderfall dar, als hier im scharfen Gegensatz zu allen Tendenzen der Verwestlichung bewußt an die Traditionen des alten und orthodox geprägten Rußland angeknüpft wurde. Wladimir Putin hat zwar die Monarchie nicht wieder eingeführt, aber sein „Gesellschaftsvertrag“ mit der Bevölkerung weist genau in diese Richtung. Die „neuen Herrscher“ garantieren der Bevölkerung eine allmähliche Verbesserung der Lebensbedingungen, fordern dafür aber den Verzicht auf politische Partizipation. Die zivilgesellschaftlichen Lücken, die diese Konstruktion lassen muß, füllen die Russische Orthodoxe Kirche und ein ungezügelter Nationalismus.
- In den „neuen Ländern“ der Bundesrepublik, also auf dem Boden der früheren DDR, wird die deutsche Wiedervereinigung zwar mehrheitlich befürwortet, die Demokratie darf als gefestigt eingeschätzt werden, aber nach dem Zusammenbruch euphorischer Erwartungen hat sich Ernüchterung, ja sogar Resignation ausgebreitet. Ein unbefangenes Nationalgefühl existiert nicht. Die Höhe der Transferleistungen von den alten in die neuen Bundesländer läßt sich nicht genau angeben - es werden Summen zwischen 300 Milliarden und 1,2 Billionen Euro genannt -, sicher ist nur, daß sie gewaltig waren und sind, ihre Wirksamkeit aber in breiten Kreisen der Bevölkerung angezweifelt wird.
- Polen betrachtet heute die Integration nach Europa als Instrument der Absicherung des Umbruchs von 1989. „Polen schlug den Weg zum Westen ein und blieb ihm treu“, urteilt Prof. Ruchniewicz/Wrocław. Die Postkommunisten seien als „Teil des neuen Systems“ in den „gelungenen Aufbau demokratischer Strukturen“ eingebunden. Auf viele Fragen, wie die nach der Moderne, dem Pluralismus, der Rolle der Familie, der gesellschaftlichen Position der Katholischen Kirche und der Toleranz gegenüber anderen Weltanschauungen und den Nachbarn, müssen aber erst noch Antworten gefunden werden.
- Sehr viel komplizierter stellt sich die Situation heute in Ungarn dar, das in die Freiheit, die Demokratie und die Marktwirtschaft hinein taumelte. Die Genossen wurden schnellstens zu Kapitalisten. Das Vertrauen der Bevölkerung in die Machteliten ist erschüttert. Das Land werde von „Mafiastrukturen“ und einer „moralischen Krise“ geprägt, versichern Kenner des Landes. Ungarn könne heute als eine „Demokratie ohne Demokraten“ bezeichnet werden. Übersteigerter Nationalismus, Rechtsextremismus und Antisemitismus gefährden die politisch-gesellschaftliche Zukunft des Landes.
- In Prag hingegen ist die „samtene Revolution“ alles in allem erfolgreich verlaufen. Diese war zwar vor allem eine Sache der Intellektuellen und Künstler, aber die von Zynismus und Apathie gegenüber der kommunistischen Herrschaft bestimmte Bevölkerung schloß sich deren Führung an. Die Anpassungsleistungen der Bevölkerung an die neuen Verhältnisse waren beträchtlich. Die demokratischen Institutionen funktionieren, wenn hier auch Ungleichgewichte z.B. zwischen Parlament und Regierung zu beobachten sind. Insgesamt aber sind Tschechien und die Slowakei viel reicher geworden und die Städte blühen. Die Landwirtschaft hat zwar zwei Drittel der Arbeitskräfte freigesetzt, trotzdem hält sich die Arbeitslosigkeit in moderaten Grenzen, also bei durchschnittlich 5 Prozent.
- Für Rumänien steht die Vollendung der Reformen und die breitflächige Überarbeitung der „alten Gesetze“ auf der Tagesordnung. Die Weltwirtschaftskrise hat die internen Krisen verstärkt. Der Bevölkerungsrückgang von drei Millionen spricht für sich. Die Kommunisten der 2. Reihe sind überall aktiv. Die Wirtschaft schwankt zwischen Paternalismus und Liberalismus. Gegenüber dem Staat entwickeln die Kommunen zunehmende Aktivitäten. Die Demokratie wird zwar vielfach in Frage gestellt, funktioniert aber „in Ansätzen“. Korruption spielt nach wie vor eine erhebliche Rolle, aber die Rechtsstaatlichkeit gewinnt an Boden. Das Verhältnis zu den „mitwohnenden Nationen“, also den nationalen Minderheiten insbesondere der Ungarn und Deutschen, gilt als geordnet. Große Probleme gibt es hingegen im Gegenüber zu den Roma, die hier wie auch in den anderen Transformationsländern zu den „Wende-Verlierern“ gehören.
Zusammenfassend läßt sich mit Prof. Hans-Peter Schwarz, dem bedeutenden deutschen Zeithistoriker aus Bonn, folgendes Fazit der letzten zwanzig Jahre formulieren: „Die Erwartungen waren hochgespannt, die Prognosen relativ zutreffend, die Programmatik im großen und ganzen vernünftig, die Verwirklichung der Transformation schwierig und frustrierend, aber viel von dem, was damals erwartet wurde, ist doch inzwischen eingetreten.“ Und das ist doch eine ganze Menge!
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